Vergebliches Hoffen auf die grosse Kasse? 

Von Andreas Anderegg

Mit einem Jahr Verspätung soll sie am 13. Dezember 1996 in Hannover nun über die Bühne gehen: die grosse Stunde des Lipperswiler Berufsboxers Stefan Angehrn. Soll - sofern beim geplanten Kampf gegen Ralf Rocchigiani nicht "widrige Umstände" erneut für eine Verschiebung oder gar eine definitive Absage sorgen. Zeit für eine Bestandesaufnahme.

Berufsboxer seit 1989

Im Jahre 1989 wechselte Stefan Angehrn nach 36 Amateurkämpfen ins Lager der Berufsboxer. In den sieben Jahren seit damals hat der Thurgauer insgesamt 19 Kämpfe ausgetragen, von denen er 16 gewann. Ein Kampf endete Unentschieden, zwei Kämpfe gingen verloren.

Raues Klima

Bereits kurz nach seinem Wechsel zu den Berufsboxern musste Angehrn im Dezember 1989 das rauhere Klima kennen lernen. Beim "Heimkampf" in Weinfelder Dancing Live, welches zur Boxarena umfunktioniert worden war, bedankte sich der Belgier Roland De Vulder für die Einladung in die Schweiz auf seine Art. Er schickte den Thurgauer bereits in den ersten Runden mehrmals zu Boden, worauf der Ringrichter das ungleiche Gefecht abbrach.

Trainerwechsel

Nach diversen erfolgreich verlaufenen Aufbaukämpfen wechselte Angehrn Anfang der neunziger Jahre vom Genfer Trainer/Manager Francois Sutter zum Berner Charly Bühler. Bühler, der Grössen wie Fritz Chervet und Erich Nussbaum geformt hatte, sollte auch den Thurgauer an grössere Aufgaben heranführen. In einer ersten Phase war noch von einem EM-Kampf die Rede, schliesslich sollte es denn aber ein WM-Kampf sein. Angesichts der "Titelflut" durch die verschiedenen Verbånde allerdings ein durchaus verståndliches Ziel. Ein erster Erfolg war im November 1994 das Unentschieden in einem IBF-Intercontinentalkampf gegen den Russen Muslim Bjarslanow.

Frischer Wind

Richtig frischen Wind in die Laufbahn von Angehrn brachte Anfang 1995 dann die Zusammenarbeit mit dem Organisator Marco Gloor. Der Zürcher, als Veranstalter der Kämpfe von Kickbox-Weltmeister Andy Hug mehrfach erfolgreich, liess seine Kanäle auch für Angehrn spielen. Die PR-Maschine wurde in Gang gesetzt - und die Ziele hoch gesteckt. Nicht wenige dürften sich damals ob der Schlagzeile in der auflagenstärksten Tageszeitung der Schweiz gewundert haben. "Ich will gegen Henry Maske boxen", liess Angehrn verlauten, der zu diesem Zeitpunkt gerade mal ein knappes Dutzend Profikämpfe hinter sich gebracht hatte. Und für den 8.Dezember 1995 wurde auch gleich das Zürcher Hallenstadion für die "WM-Night" reserviert.

"Drehbuch" falsch gelesen

Was sich danach zugetragen hat, ist bekannt. In Kämpfen gegen weitere "Aufbaugegner" wollte sich der Thurgauer WM-Reife holen. So auch gegen Simon McDoughall, die Nummer 15 der insgesamt 70 britischen Halbschwergewichtler. Der Engländer hatte am Ostermontag 1995 allerdings das Drehbuch offenbar falsch gelesen und machte mit Angehrn kurzen Prozess; in Runde fünf kam das Aus. In diesem Fall ging die Schuldzuweisung an Trainer Bühler, worauf sich der Thurgauer vom Spanier Enrique Soria managen liess.

"Weltklasse in Kreuzlingen"

Im Juli folgte das als "Weltklasse in Kreuzlingen" angepriesene Box-Meeting am Bodensee, das sich angesichts des schwachen Gegners allerdings als "Schwindel am Publikum" herausstellte (so der Tenor in verschiedenen Leserbriefen). Die Erfüllung der Auflagen für einen WM-Kampf jedenfalls - ein Sieg gegen einen in der Rangliste der Europäischen Boxunion klassierten Boxer - war noch in weiter Ferne. Daran konnten auch die nachfolgenden Ausland-Erfolge gegen international völlig unbekannte Gegner wenig ändern.

Auftritt in Granrollers

Weil der Boxverband weiterhin auf die Erfüllung der Auflage beharrte, traf Angehrn dann im spanischen Granrollers dann auf die Nummer fünf in der EBU-Rangliste, Valeri Wichor. Der Thurgauer hatte gegen den Ukrainer, der zufällig ebenfalls bei Soria unter Vertrag stand, allerdings kaum Gelegenheit, seine Qualitäten zu beweisen. Denn der Kampf war nach zwei der vorgesehenen acht Runden bereits zu Ende.

Beobachter vor Ort

Kommentar in der "NZZ", die einen Beobachter vor Ort hatte: "Wichor ging den Kampf ausgesprochen behutsam an, und zumal auch der Schweizer in der ersten Runde den offenen Schlagabtausch mied, bedachte das Publikum die zaghafte Haltung der beiden Boxer schon früh mit Pfiffen ... Nach dem Gongschlag zur dritten Runde kam Wichor nicht aus seiner Ecke, sondern krümmte sich plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Seile, und während die knapp 1000 Zuschauer, noch im ungewissen über die unerwartete Wendung der Dinge, ihrem Unmut lauthals Ausdruck gaben, riss Angehrn vor dem Schweizer Pressefotografen, der das Ereignis für die Leser einer Sonntagszeitung festhielt, die Arme in die Höhe: Sieg durch Aufgabe des Gegners".

Hill anstelle von Maske

Damit war der geforderte Leistungsbeweis erbracht und der Weg frei zur WM gegen WBA-Titelträger Virgil Hill, der mittlerweile anstelle von Maske verpflichtet worden war. Eine Woche vor dem Fight liess Promotor Gloor die Veranstaltung aus finanziellen Gründen dann allerdings platzen. Der Schweizer Berufsboxkommission wurde bei der Bewilligungserteilung eine zu zögerliche Haltung vorgeworfen, weshalb nicht nur der Vorverkauf schlecht lief, sondern offenbar auch Sponsoren absprangen.

Wechsel des Boxverbandes

Enttäuscht wechselte der Lipperswiler schliesslich zum luxemburgischen Verband und löste dort eine Lizenz. Seither hat Angehrn erst einen Kampf bestritten, am 13. Juli besiegte er in Essen den Amerikaner Willie Lee Kemp nach Punkten.

Verheissungsvolles Umfeld

Derzeit bereitet sich der Thurgauer nun in einem verheissungsvollen Umfeld auf den Kampf gegen Ralf Rocchigiani vor. Dieser ist Titelträger der jüngsten und unbedeutenden World Boxing Organisation. Nicht zuletzt angesichts seines respektablen Palmares ist Rocchigiani klarer Favorit. Weil gerade in den schweren Gewichtsklassen mit einem Treffer alles vorbei sein kann, winkt Angehrn aber immerhin eine kleine Chance, doch noch einen Titel bei den Profis gewinnen zu können. Kenner der Szene räumen ihm angesichts seiner sportlichen Basis jedoch nur geringe Chancen ein. Denn Angehrn ist weder ein grosser Puncher, noch ein brillanter Techniker. Die beiden vorzeitigen Niederlagen haben ausserdem fehlende "Nehmerqualitäten" aufgedeckt. Argumente, die auch eine seit Jahren äusserst wohlwollende Berichterstattung eines Zürcher Agentur-Journalisten nicht überdecken kann.